Bayazids Sufismus: Entwerdung ohne Ritual | A. Nurbakhsh

Ein Zeichen von Gottes Liebe ist es
drei Eigenschaften seinem Geliebten zu verleihen:
„Grosszügigkeit – einem Meer gleich,
Güte – der Sonne gleich und
Bescheidenheit – der Erde gleich.
Bayazid

Sufismus wurde schon immer als eine praktische, aber zugleich transzendentale Schule präsentiert: „praktisch“, in dem Sinne, dass es sich mit Disziplinen beschäftigt, die zur Erleuchtung führen und „transzendental“ im Sinne, dass es die äußeren Aspekte jeder Religion überschreitet. In keinem anderen Sufi sind diese beiden Eigenschaften besser verkörpert als in Bayazid. Unter den früheren Sufis des Islams spielte Bayazid (geb. 875 n. Chr.) eine zentrale Rolle in der Formierung der Sufi-Doktrinen und Praktiken, die später von Sufis wie Rumi und Attar übernommen und ausgeweitet wurden.
Wenig ist über Bayazids Leben bekannt. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er in Bastam, einer Stadt im Nordosten des Irans. Es wird erzählt, dass er dreißig Jahre herumgewandert ist und während dieser Zeit den Sufipfad vollendet hat, aber nur sehr wenig wurde aus dieser Zeit aufgezeichnet. Obwohl er sehr wenige, wenn überhaupt Schriften hinterließ, gibt es eine Menge Geschichten und anekdotische Zitate, die ihm in der Sufiliteratur zugeschrieben werden, besonders in solch klassischen Werken wie Hujwiri’s Die Enthüllung des Verschleierten (Kašf al-maḥǧūb) und in Attars Heiligenlegenden (Tadhkirat al-auliya).
Religiöse Glaubensvorstellungen und Rituale spielen in der gegenwärtigen westlichen Kultur bei weitem keine wichtige Rolle. Die meisten von uns gehen durch die alltägliche Routine ohne über Religion nachzudenken oder ohne von irgendwelchem Aspekt der Religion beeinflusst zu werden. Aber es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass zu Zeiten Bayazids die Situation ganz anders ausgesehen hat. Das Leben einer Person war damals zum größten Teil durch den religiösen Glauben und die Rituale bestimmt und gesteuert. Das Hauptziel und die Hauptbeschäftigung eines Menschen war somit sich auf das Göttliche einzustimmen, entweder um Gotteswillen oder auf der niedrigeren Ebene, um die weltlichen oder irdischen Leidenschaften zu befriedigen.
Bayazid starb 875 n. Chr. in seiner Heimatstadt Bastam, wo der Islam, wie auch in anderen Teilen der islamischen Welt, die bedeutendste Rolle im Leben der Menschen spielte; nahezu alle versuchten damals, in Übereinstimmung mit den Regeln und Ritualen ihr Leben zu leben. Das tägliche rituelle Gebet, das Fasten, eine Pilgerreise nach Mekka und das Geben von Almosen waren für diese Menschen so wichtig und real, wie zum Beispiel für uns, dass unsere Kinder eine gute Bildung erhalten. Bayazid fühlte, dass solch ein religiöses Leben viel zu oberflächlich und zu scheinheilig war, denn es war zur Befreiung eines Individuums von dieser Welt und dem Jenseits ausgerichtet. Für Bayazid war die konventionelle religiöse Haltung durch das Eigeninteresse und das Ego verunreinigt, denn es ist letztendlich nur zuliebe des eigenen Egos konstruiert. Laut Bayazid ist das Reich des Egos jedoch Gott entgegengesetzt.
Lasst uns auf Bayazids Verständnis von Gott blicken. Folgende Geschichte erscheint in Hujwiri’s Kašf al-maḥǧūb, dem ältesten persischen Traktat über Sufismus:

Es wird berichtet dass Bayazid sagte: „Ich ging nach Mekka und sah ein Haus für sich stehen. Ich sagte, ‛Meine Pilgerschaft ist nicht erfüllt, denn ich habe viele Steine von dieser Sorte gesehen.’ Ich ging wieder hin und sah nun das Haus und den Herrn des Hauses. Ich sagte, ‛Das ist noch keine wahre Einheit.’ Ich ging ein drittes mal und sah und den Herrn des Hauses. Die Stimme in meinem Herzen flüsterte, ‛O Bayazid, wenn du dich selbst nicht gesehen hättest, dann wärst du kein Götzenanbeter, obwohl du das ganze Universum gesehen hast, aber weil du dich selbst siehst, bist du ein Götzenanbeter, blind für das ganze Universum.’ Aus diesem Grund bereute ich und noch einmal bereute ich meine Reue, meine eigene Existenz gesehen zu haben.“ (Adaptiert aus Hujwiri 1976, S. 108)

Haddsch ist ein heiliges Ritual, das ein Moslem mindestens einmal im Leben verrichten sollte. Zu Lebzeiten Bayazids war das womöglich das endgültige Ziel des Lebens. Die Reise war sehr hart und in der Tat wussten die meisten Pilger nicht, ob sie jemals zurück kommen werden. Wie jeder andere nimmt Bayazid diese Reise mit Eifer auf. Aber im Gegensatz zu fast jedermann geht er an diese Reise mit einer äußersten Ernsthaftigkeit heran. Zumal er zum Haus Gottes geht, erwartet er selbstverständlicher weise, dass er Gott sehen wird. Aber er gelangt dahin, um nur ein gewöhnliches Haus gebaut aus Stein und Lehm zu sehen. Er ist eindeutig unzufrieden. Er schwört sich selbst, dass er die Reise nach Mekka immer wieder aufnehmen wird, bis er Gott erblickt. Zu diesem Zeitpunkt war er womöglich vollständig in unterschieche Litaneien, Gedenken, Rezitationen und Gebete versunken und was auch immer ihm helfen könnte das Haus, oder in anderen Worten die Welt zu vergessen und ihn Gott näher bringt. Nach seiner dritten Reise erblickt er schließlich den Herrn, oder zumindest denkt er Gott erblickt zu haben. An diesem Punkt ist er fröhlich und zufrieden zugleich, der Herr ist es aber eindeutig nicht. Gott sagt zu Bayazid, dass es ihm gleich ist ob er die Welt sieht oder nicht. Ihn kümmert es nur, wenn Bayazid sich selbst nicht sehen würde. Und es ist nur wenn er aufhört sich selbst zu sehen, kann Bayazid wahrlich sagen, dass er Gott gesehen hat. Zuerst empfindet Bayazid Reue, weil er denkt Gott gesehen zu haben und als nächstes bereut er Reue empfunden zu haben, denn das ist nur eine weitere Manifestierung seines Wesens; schließlich bereuet er seine eigene Existenz überhaupt gesehen zu haben.
All das bringt Bayazid dazu den Unterschied zwischen dem Gott der eigenen Vorstellung und dem realen Gott zu verstehen. Der erste ist womöglich konstruiert aus dem eigenen Versenken in Meditation und Betrachtung des Göttlichen bis zu dem Punkt, an dem man den Rest der Welt überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Aus einem einfachen Grund ist das offensichtlich nicht zufriedenstellend, denn unsere eigene Vorstellung ist eigennützlich. Sie kreiert einen Gott aus den eigenen emotionalen Bedürfnissen oder als eine Projektion der eigenen Ideale. Aber letztendlich ist es nur für einen selbst konstruiert. Bayazid sieht diesen Makel in seinem eigenen Streben nach Gott. Der „Reale Gott“ ist nicht eigennützig. Er ist unabhängig von unserem Wunschdenken und unserer Imagination. Um sicher zu gehen, dass er nicht wieder durch seine törichte Vorstellungskraft überlistet wird, setzt Gott für die Begegnung mit dem Realen eine Bedingung fest: Siehe nicht dich selbst. An anderer Stelle sagt Bayazid: „Ich sah Gott im Traum und fragte Ihn – Was ist der Pfad zu Dir? Er antwortete, ‛Verlass dich selbst und du bist schon da.’“ (Attar 1976, engl. Ausg.)
„Sieh nicht dich selbst!“ bedeutet Gott nach zu gehen, ohne eine versteckte Absicht, ohne irgendwelche Abmachungen zu treffen und besonders ohne irgendwelche Gedanken an sich selbst zu haben. Gleichzeitig sagt jedoch Gott zu Bayazid, dass der Pfad zu Ihm sehr praktisch ist. Dieser ist nicht und sollte auch nicht durch Bayazids Vorstellungen und fehlerhaftes Denken durcheinandergebracht werden. Um es zu vermeiden, sich selbst zu sehen, sollte Bayazid etwas tun. Kein Ausmaß an Denken und Imagination wird ihm helfen, sein Ego zunichte zu machen. Das ist der sehr praktische Teil von Bayazids Sufismus: das Handeln ist dem Denken und dem Vorstellen gegenübergestellt.
Aber welche Art von Handeln hat Bayazid praktiziert oder was ist für Gott von Bedeutung, um das Entwerden des Egos im Auge zu behalten? Schließlich ist das Pilgern selbst eine Form von Handlung. Dazu muss man sich auf seine eigene Füße begeben und von einen Ort zum nächsten reisen und zu dieser Zeit wusste man sehr wohl, wie hart solch ein Vorhaben ist. Für Bayazid sind rituelle Handlungen, so notwendig diese auch sein mögen, keine guten Mittel, um das eigene Ego aufzugeben oder zunichte zu machen. Beim Ausführen eines religiösen Rituals stellt man das Ego nicht auf den Spiel. Im Bezug auf das Ego ist hierbei kein Risiko involviert. Wenn man das eigene Ego nicht herausfordert und nicht bekümmert, so befindet man sich in Bayazids Augen auch höchst wahrscheinlich nicht auf dem Pfad Gottes.
Wie geht man aber daran, so etwas zu tun? Aus den Geschichten über ihn kann man folgern, dass es zwei Wege gibt, gegen das Ego anzugehen, obwohl diese nicht getrennt, sondern eher miteinander verflochten sind. Das sind selbstloser Dienst und Güte zu Mitmenschen auf der einen Seite, und das Anziehen des Tadels und der Vorwürfe auf der anderen. Erachte folgende Geschichte als Verweis zur Bedeutung des selbstlosen Dienstes in Bayazids Sufismus. Diese Geschichte passiert wiederum im Zusammenhang einer anderen Pilgerreise nach Mekka. Das ist kein Zufall, da Bayazids Sufismus immer eine Reaktion auf konventionelle Praktiken ist:
Auf einer seiner Pilgerreisen nach Mekka gab es solch einen Mangel an Wasser, dass Menschen verdurstet sind. Bayazid kam an einem Platz vorbei, an dem sich Menschen um einen Brunnen versammelt hatten, so durstig, dass sie gegeneinander um das Wasser kämpften. Inmitten dieses Tumults sah er einen armseligen Hund, der offensichtlich am Durst zugrunde ging. Der Hund sah Bayazid an und vermittelte ihm irgendwie, dass die wahre Mission von Bayazid darin besteht, für ihn Wasser zu besorgen. Ihm fiel etwas ein und er begann es zu verkünden, – „ Will jemand den Verdienst eines hajj – einer Pilgerreise gegen Wasser eintauschen?“ Als er keine Antwort von den Menschen erhielt, fing er an, seinen Einsatz für den Handel zu erhöhen, wobei er seine hajj Pilgerreisen auf fünf, sechs, sieben und schlussendlich auf siebzig für etwas Wasser erhöhte. Schließlich willigte ihm jemand ein, im Tausch für den Verdienst von siebzig Hadsch Pilgerreisen, Wasser zu geben. Es ist dieser Augenblick in der Geschichte, an dem Bayazids Ego ihn in Schwierigkeiten bringt. Gleich nachdem der Handel abgeschlossen war, fing er an, sich für seine Handlung stolz zu fühlen, und war mit sich zufrieden, solch eine noble und selbstlose Tat begangen zu haben. Voll von seinem Selbst und stolz auf seine Handlung stellte Bayazid die Schüssel mit Wasser vor den Hund, der Hund akzeptierte jedoch das Wasser nicht und drehte sich weg. Nun, ein Mann von solch einem Kaliber wie Bayazid sucht nach einer göttlichen Botschaft, sogar von einem Hund, und Bayazid fühlte sich hierbei für seinen Stolz zutiefst beschämt. In diesem Augenblick vernahm er eine Nachricht von Gott, „ Wie lange hast du vor zu sagen, – ich habe dies gemacht, ich habe das gemacht? Siehst du denn nicht, dass sogar ein Hund deine großzügige Tat ablehnt?“ Sogleich bereute Bayazid seine Handlung des Selbst-Sehens. (adaptiert von Aflaki 1983, vol. II, s. 671 engl. Ausgabe)
Der selbstlose Dienst auf den hier hingewiesen wurde, ist nicht nur einfach eine wohltätige Handlung. Es ist nicht mit einer Geldspende an eine Wohltätigkeit oder mit einer ehrenamtlichen Arbeit für Arme und Bedürftige gleichzusetzen. Er ist weitaus subtiler und schwieriger als das. Ein wahrer selbstloser Dienst beginnt, wenn man sich nicht stolz durch die eigene wohltätige Tat fühlt und ist erfüllt, wenn man sich selbst als wirkende Kraft des wohltätigen Handelns nicht bewusst ist. Der wahre selbstlose Dienst, so wie es von Bayazid erkannt wurde, ist der bedeutendste Weg, von seinem Ego befreit zu werden.
Die folgende Geschichte zeigt uns noch ein weiteres Beispiel, wie Bayazid mittels eines einfachen Akts der Güte gegen sein Ego vorgeht:
Einst ging Bayazid nachts durch einen Friedhof in Bastam und stieß dort auf einen noblen jungen Mann, der eine Laute spielte. Als er den Jugendlichen sah, rief Bayazid folgendes aus: „Es gibt keine andere Kraft und Macht außer der von Gott.“ In Annahme, dass Bayazid ihn dafür kritisierte, auf dem Friedhof zu spielen, schlug ihn der junge Mann mit der Flöte auf den Kopf und beschädigte dabei sowohl Bayazids Kopf, als auch sein Musikinstrument. Nach der Rückkehr in sein Quartier rief Bayazid einen seiner Schüler herbei, gab ihm etwas Geld und Süßigkeiten und sagte ihm, dass er dass er zum Haus des jungen Mannes gehen und ihm folgendes ausrichten sollte: „Bayazid bittet dich um Verzeihung dafür, was letzte Nacht passiert ist und bittet dich, das Geld dafür zu benutzen, eine neue Laute zu kaufen und dann diese Süßigkeiten zu essen, um die Trauer in deinem Herzen wegen dem Zerbrechen der Laute zu beheben.“ Als er die Nachricht gehörte, erkannte der junge Mann, was er gemacht hatte und ging daraufhin zu Bayazid, um sich zu entschuldigen. (Adaptiert von Attar 1976, S. 117 englische Ausgabe)
Einen Akt der Aggression mit Güte zu erwidern, ist gegen das Ego anzugehen. Unser Ego wünscht sich Rache oder zumindest eine Art von Entschädigung, wenn man uns einen Schaden zufügt. Eine Entschädigung zu suchen, heißt für Bayazid, dem Ego in die Hände zu spielen, wodurch man sich nur weiter von Gott entfernt.

Der zweitwichtigste Weg für Bayazid sein Ego zu überwinden, ist es Tadel anderer Menschen anzuziehen und in den Augen der Gesellschaft in Ungnade zu fallen. Das könnte für uns jetzt ziemlich unsinnig klingen. Warum würde sich jemand blamieren wollen? In unserer zeitgenössischen westlichen Kultur liegt die Betonung auf Propagierung und Verherrlichung des Egos, nicht dessen Niedergang. Lasst uns zuerst aber ein Beispiel dafür anschauen, was Bayazid mit Anziehen des Tadels der anderen meint:

In der Stadt Bastam, die Bayazid zu seiner Heimat machte, lebte ein sehr angesehener und angesehener Asket. Er genoss den Kreis Bayazids, obwohl er niemals zu seinem Schüler wurde. Einst sagte er zu Bayazid: „Oh Meister, während der letzten dreißig Jahren habe ich mich dieser Welt enthalten und das Wachen in der Nacht praktiziert, aber ich muss ehrlich mit dir sein: Ich finde in mir nicht dieses Wissen von dem du gesprochen hast, obwohl ich deine Weisheit anerkenne und es gerne verstehen würde.“ Bayazid erwiderte: „Oh Scheich, sogar wenn du weiterhin dein rituelles Gebet und das Fasten in den nächsten dreihundert Jahren praktizierst, würdest du nicht im Stande sein auch die kleinste Portion dieser Weisheit zu verstehen.“ „Wieso?“ fragte der Asket. „Weil du ein Gefangener deines Egos bist,“ erwiderte Bayazid. „ Gibt es irgendein Heilmittel für meinen Zustand?“ fragte der Asket. „Es gibt da schon etwas, aber du wirst nicht im Stande sein, dieses auszuführen,“ erwiderte Bayazid. „Ich verspreche, alles auszuführen, was auch immer du mir vorschlägst, denn ich war seit Jahren auf der Suche nach diesem Wissen,“ beharrte der Asket. „In diesem Fall“, fuhr Bayazid fort, „musst du zuerst deine asketische Kleidung ablegen und dich statt dessen in Lumpen kleiden; öffne dein Haar und dann geh und setze dich mit einer Tasche voller Walnüsse in die Nachbarschaft, wo die Menschen dich am besten kennen. Ruf danach alle Kinder, die in der Nähe sind zusammen und sag ihnen, ‚Ich gebe demjenigen eine Walnuss, der mir eine ins Gesicht knallt, zwei Walnüsse gebe ich, wenn mir jemand zwei knallt und so weiter‘. Nachdem du mit dieser Nachbarschaft fertig bist, geh zur anderen Nachbarschaft, bis du die ganze Stadt abgedeckt hast. Das ist dein Heilmittel.“ Absolut verwirrt und schockiert schrie der Asket aus: „Geehrt sei Gott! Es gibt keinen Gott außer Gott,“ was zu jener Zeit eine Art war, Erstauen auszudrücken. „Wenn ein Ungläubiger das von sich gegeben hätte,“ erklärte Bayazid, „so würde er durch das Aussprechen dieser Worte zum Moslem werden, du bist jedoch durch das Aussprechen dieser Worte zum Ungläubigen geworden!“ „Aber warum denn?“ fragte der Asket. „Weil du durch das Sagen dieser Worte dich selbst und nicht Gott verehrst,“ erwiderte Bayazid. „Bitte Bayazid, gib mir einen anderen Ratschlag,“ flehte der Asket. „Das ist dein einziges Heilmittel, und wie ich schon gesagt habe, du wirst es nicht ausführen können,“ erwiderte Bayazid (Adaptiert aus engl. Ausgabe Attar 1976, S. 112-113).

In Bayazids Sufismus muss man sich von der Pseudo-Personalität, die man für sich erschaffen hat, befreien. Wir alle wollen von anderen akzeptiert und respektiert werden. Zumeist werden wir von der Gesellschaft und unseren eigenen kulturellen Normen geleitet, um eine falsche Wahrnehmung von uns selbst zu erschaffen. In der modernen Kultur bemühen sich nicht viele Menschen darum, auf der Basis der Religion sich eine bessere moralische Persönlichkeit seiner selbst zu erschaffen. Zu Bayazids Zeiten war die anerkannte Persönlichkeit, nach der jeder strebte, die eines Gläubigen. Jedoch fördert unsere Kultur es nicht gläubig oder fromm zu sein. Heutzutage wird Erfolg anders gemessen und definiert – nämlich anhand des Reichtums, Ruhmes und der Position in der Gesellschaft. Um Bayazid in der Suche nach der Wahrheit zu folgen, müssen wir unsere Pseudo-Persönlichkeit vernichten, und sein Weg diese zu vernichten ist mittels der öffentlichen Blamage. Jeder sollte dich als einen Verrückten, Schwindler oder einen Heuchler verurteilen. Das ist der Preis, den man für die Wahrheit Bayazids zu zahlen hat.
Bayazid sagt nicht, dass man aus der Gesellschaft aussteigen sollte – für ihn ist das der leichte Ausweg. Im Gegenteil, er fordert die Menschen auf, weiterhin das zu tun, was immer sie tun und das zu ihrem besten Vermögen. ‚Die Welt zu sehen‘ ist nichts anderes als die Welt zu genießen, die Schönheit der Welt zu schätzen. Gott will nicht, das Bayazid ein Asket ist. „Betrachte die Welt, aber sieh dich selbst nicht,“ sagte Gott zu Bayazid. Und hier sehen wir ein tiefgründiges ethisches Prinzip: Tue, was du kannst, aber tue es selbstlos.
Folgende Geschichte bietet ein anderes Beispiel von Bayzids Zerschlagung des akzeptierten Image, das durch die Gesellschaft für ihn erschaffen wurde:

Als die Menschen von Bastam gehört hatten, dass Bayazid von seiner Pilgerreise nach Mekka zurück kehrt sei, gingen sie zum Stadttor, um ihn mit Ehre und Respekt willkommen zu heißen. Für eine kurze Zeit folgte Bayazid dem, was die Menschenmenge von ihm erwartete, aber er erkannte bald, dass er das beenden musste. Es war der Monat Ramadan und jeder fastete. Natürlicherweise erwarteten alle, dass Bayazid ebenfalls fastet. Stattdessen nahm er ein Stück Brot aus seiner Tasche und begann zu essen. Kaum hatte er das getan, gingen alle Menschen empört davon (Adaptiert aus engl. Ausgabe Hujwiri 1976).

Bayazid warnt uns hier von der Gefahr, uns mit dem, was wir tun oder mit dem, wie wir uns selbst sehen, zu identifizieren. Der einzige Weg sicher zu stellen, dass wir dem Gefühl des Ichs, dass wir für uns erschaffen haben, nicht angehaftet fühlen, ist es, Tadel anderer Menschen auf sich zu ziehen, um uns selbst schändlich erscheinen zu lassen. Wenn es die Wahrheit ist, die wir verfolgen, dann sollten wir es laut Bayazid zulassen unser falsches Image, dass wir für uns erschaffen haben, durch andere Menschen zertrümmern zu lassen.
Bislang habe ich so gesprochen, als ob es in der Hand des Individuums liegen würde, schandhaft zu agieren. Jedoch gibt es im Prozess der Ego-Vernichtung einen entscheidenden Faktor, womit ich auch den ‚Bayazids Sufismus‘ präge, und das ist die Rolle des Meisters oder des Wegweisers. Die Art und Weise, auf welche das Individuum in der gegebenen Gesellschaft getadelt oder blamiert werden soll, kann nicht vom Individuum selbst bestimmt werden, denn wenn es dazu kommt, den Halt unseres eigenen Egos zu lösen, so haben wir keine Ahnung, wie wir das am besten vollbringen können. Wir könnten vom Ego selbst überlistet werden, um es sich leicht zu machen oder die Schande könnte so harsch ausfallen, dass wir danach nicht mehr im Stande wären, als ein produktiver Teil der Gemeinschaft zu funktionieren. Es ist der Meister und nur der Meister allein, der die Weisheit und die Weitsicht hat, die richtige Dosis der Blamage für uns zu verschreiben, so wie es Bayazid für den Asketen getan hat.
Das trifft ebenfalls auf Bayazids selbstlosen Dienst zu. Ohne die Liebe eines anderen – in diesem Fall der des eigenen Meisters – ist es unmöglich, mit dem Pfad des selbstlosen Dienstes zu beginnen. Es ist kein Zufall, dass in großartigen Liebesgeschichten der Liebende sich immer auf mehrere selbstlose Handlungen einlässt, einzig und allein um des Geliebten Willen, riskiert er manchmal sein oder ihr eigenes Leben ohne jegliches Zögern oder Angst. Unsere Liebe für eine andere Person macht uns blind gegenüber unseren eigenen selbstsüchtigen Leidenschaften und unseren egoistischen Tendenzen. Der spirituelle Pfad ist auch nicht anders. Es ist die Liebe unseres Meisters oder Wegweisers, welche es uns ermöglicht mit dem Pfad des selbstlosen Dienstes zu beginnen. Wenn diese Liebe weggenommen wird, so werden wir mit der falschen Frömmigkeit und dem Stolz im Dienst, den wir für unsere Nächsten verrichten konfrontiert, so wie es Bayazid erging, als er das Wasser vor den Hund stellte.
Die Wichtigkeit in Bayazids Sufismus, einen Meister zu haben wird anhand folgender Geschichte betont, mit der ich diesen Artikel beenden möchte:

Rumi hatte gesagt, dass ein wahrer Schüler seinen Meister über jeden anderen stellt. Jemand fragte einst einen Schüler von Bayazid: „Wer ist grossartiger, dein Meister oder Abu Hanifa?“ „Mein Meister,“ erwiderte der Schüler. „Wer ist grossartiger, Abu Bakr oder dein Meister?“ „Mein Meister,“ wieder erwiderte der Schüler. „Wer ist grossartiger, die Gefährten des Propheten oder dein Meister?“ Mein Meister,“ erwiderte wieder einmal der Schüler. „Na gut, wer ist grossartiger, Gott oder dein Meister?“ „Ich sah Gott in meinem Meister und kenne niemanden außer meinen Meister,“ erwiderte der Schüler zum letzten mal. (Aflaki 1983, vol. I, p 297)

Referenzen
Hujwiri, ‚Ali b. ‚Uthman al-Jullabi. 1976. The Kashf al-mahjub: The Oldest Persian Treatise on Suflsm. Edited by R. A. Nicholson. London: Luzac and Company Ltd.
‚Attar, Farid al-Din. 1976. Muslim Saints and Mystics. Translated by A. J. Arberry. London: Routledge & Kegan Paul.
Aflaki, Shams al-Din Ahmad. 1983. Manaqibal-‚arifin. Two volumes. Edited by Tahsin Yaziji. Tehran: Donyay-c Ketab.
Artikel stammt aus dem englischen Sufi Magazin Ausgabe 46, 2000

 

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