Sufi-Bibliothek

Im Andenken an meinen geliebten Vater | A. Nurbakhsh

Javad Nurbakhsh

Diese Rede wurde am 19. Oktober 2008 bei der Trauerfeier für Dr. Javad Nurbakhsh, Meister des Nimatullahi Sufi Ordens, in London von Dr. Alireza Nurbakhsh gehalten.

Ich möchte gern alle zu dieser Zusammenkunft zum Gedenken an meinen lieben Vater, Dr. Javad Nurbakhsh, willkommen heißen. Er ist letzten Freitag, am 10. Oktober, verstorben.

Ich bin nicht hier, um über die weltlichen Errungenschaften meines Vaters zu sprechen, da ich davon ausgehe, dass die meisten von Euch bereits mit seinem Leben vertraut sind. In jedem Fall gibt es hier für alle eine kurze Biographie, die, soweit ich verstehe, weltweit von mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde.

Mein Vater hat die letzten 29 Jahre seines Lebens fern von seinem Heimatland im Exil verbracht. Trotzdem bedeuteten ihm der Iran und seine Kultur sehr viel: für ihn war diese nichts anderes als der Sufismus.

In seiner Jugend, als er gerade einmal 16 war, wurde er vom Sufismus angezogen und begann seine spirituelle Reise unter seinem Meister, Herr Dhu ‘r-Riyasatayn, während er gleichzeitig Medizin an der Universität Teheran studierte. Wie viele andere traditionelle Gesellschaften durchlebte der Iran grundlegende kulturelle Veränderungen, hin zur Moderne. Wissenschaft und Technologie wurden unter jungen Menschen aktiv als die einzige Richtung für das Land beworben. Gleichzeitig blickten iranische Intellektuelle eher auf den Sufismus herab: sie fanden ihn rückschrittlich und unvereinbar mit einer fortschrittlichen, wissenschaftlichen Weltanschauung. Für sie war Sufismus Faulheit, Betteln, Abgeschiedenheit und hauptsächlich ein parasitäres Dasein in der Gesellschaft. Und ich muss zugeben, dass aus geschichtlicher Sicht solch eine Wahrnehmung des Sufismus damals nicht weit weg von der Wahrheit war.

Mein Vater war einer der wenigen Menschen in dieser Zeit, die keine Unvereinbarkeit zwischen der Moderne und einer wissenschaftlichen Weltanschauung einerseits und dem Sufismus anderseits sahen. Seine Interpretation des Sufismus war radikal verschieden von der seiner Zeitgenossen, die den Sufismus als nicht mehr als nur einen Aspekt des esoterischen Islam sehen konnten. Mit einer radikalen Interpretation des Sufismus meine ich, dass er den persischen Sufismus im Wesentlichen als ein menschliches Unterfangen ansah, das die trockenen und manchmal harschen Aspekte des exoterischen Islams neutralisieren und bekämpfen konnte.

Immer wieder hat er den Sufismus als eine Reise definiert, die mithilfe von Liebe und liebender Güte vom Ego hin zur Wahrheit führt. Für ihn ist der Sufismus ein Weg für Menschen, ihr rohes, materielles Wesen in eine höhere, spirituelle Form des Seins zu transformieren, wodurch sie liebende Güte zu allem und allen manifestieren. Er hat Sufismus nie als intellektuelle Tätigkeit verstanden, die auf die Ausarbeitung esoterischer Konzepte wie der Anhaftungslosigkeit von der Welt begrenzt ist. Für ihn konnten solche Konzepte nur ‚verstanden‘ werden, indem man sich auf den Weg zu Gott macht.

Seine Schule des Sufismus ist eine Wiederbelebung des auf Liebe gründenden Persischen Sufismus, wie er an der nordöstlichen Grenze Irans in Chorasan praktiziert wurde. Die klassische Periode dieser Entwicklung war zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert nach Christi. Er sah in Bayazid Bastami, Abu’l-Husayn Nuri Khurasan, Abu’l-Hasan Kharaqani, Abu-Sa’id ibn Abi’l-Khayr and Abu’l-Abbas Qassab Amuli die Vorreiter des wahren Sufismus.

Diese Schule des Sufismus basiert auf drei grundlegenden Prinzipien, die er sein ganzes Leben lang in die Tat umsetzte.

Das erste Prinzip ist das des ‚Nichtsseins‘, wonach die Taten eines Menschen nicht auf seinem Ego basieren sollten. Nur Menschen, die in Gott entworden sind, können das erreichen, denn nur derjenige weiß nichts mehr von sich, der in den Geliebten verliebt ist. Wie mein Vater in einem seiner Gedichte beschrieben hat:

Nurbakhsh verließ die Gegend von „Ich“ und „Du“
Und ließ sich nieder im Heiligtum des Herzens.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die er mir erzählte, als ich sehr jung war und die ich später auf einem Stück Papier in seiner Handschrift niedergeschrieben fand. Die Geschichte ist nicht ohne Witz und ist ein gutes Beispiel dafür, wie er mit Leuten umging, die nicht über sich selbst hinaussehen konnten. Als er im Alter von 27 zum Meister des Nimatullahi-Sufi-Ordens wurde, luden ihn die Sufis aus Kermanshah, einer Stadt im West-Iran, in der sein Meister begraben lag, zum Besuch ein. Obwohl er zu dieser Zeit Arzt war, hatte er nicht viel Geld und konnte sich nur ein Busticket leisten. Sein einziger Anzug war ausgetragen und staubig. Im Bus saß er neben dem Lehrer eines Gymnasiums, der ein sehr stolzer Mann war und wegen seines Erscheinungsbildes auf meinen Vater herabsah. Nach einer Weile wurde dem Lehrer langweilig und er entschied sich, eine Unterhaltung mit meinem Vater zu beginnen. Er fragte meinen Vater: „Was machst du, Junge?“ „Ich bin ein Schneider in Kermanshah“, antwortete mein Vater. „Warum bist du dann nach Teheran gegangen?“, fragte der Lehrer. „Weil ich etwas über Mode lernen wollte, um mein Geschäft zu verbessern“, antwortete mein Vater. Er fuhr in dieser Art und Weise fort, die Fragen des Lehrers zu beantworten, bis sie eine Stadt in der Nähe von Kermanshah erreichten, wo eine große Menge von Sufis, die wussten, dass er kommen würde, die Straße blockiert hatten, um ihn willkommen zu heißen. An dieser Stelle wandte sich der Lehrer an meinem Vater und sagte, dass diese Leute sich ganz sicher irrten, da ja, soweit er sehen könnte, niemand Wichtiges im Bus saß. Mein Vater sagte nichts. Dann stieg eine Gruppe von Sufis in den Bus und stürzte sich auf ihn. Weil er die Verwunderung des Lehrers über diese Ereignisse mitbekam, wandte sich mein Vater zu dem Lehrer um und sagte: „Ich schwöre, sie haben den Falschen erwischt!“

Das zweite Prinzip ist der Dienst an der Menschheit. Von dem Tag, an dem er sich für das Medizinstudium eingeschrieben hatte, bis zu dem Tag, an dem er gestorben ist, diente er allen, egal ob sie Sufis waren oder nicht und ohne Erwartung, irgendetwas dafür zurück zu bekommen. Ich erinnere mich, dass einst ein Sufi, der ihn besuchte, ihm von einem Mann, der ihn und den Rest der Sufis kritisierte, erzählte. Ich erinnere mich, wie sich mein Vater in seiner Antwort überrascht über das, was er gehört hatte, zeigte, weil er diesem Mann nie irgendeine Freundlichkeit erwiesen hatte. Der Sufi war sehr verwundert über diese Bemerkung. Dann erklärte mein Vater, dass es in seiner Erfahrung so sei, dass nur diejenigen, denen er einen Gefallen getan hatte, sich mit Härte revanchierten.

Das dritte Prinzip ist die Liebe zu Gott. Mit ‚Gott‘ meinte mein Vater kein anthropomorphes Wesen, das menschliche Eigenschaften besitzt und menschengemacht ist. Für ihn ist Gott das unaussprechliche Absolute Sein, und das ganze Universum ist die Manifestation dieses Absoluten. Er hat sich immer wieder auf das Prinzip der ‚Einheit des Seins‘ bezogen, das nur mit dem Herzen erkannt werden kann, nicht durch den Verstand. Da alles eine Manifestation Gottes ist, so bedeutet Gott zu lieben, alle Geschöpfe Gottes und seine gesamte Schöpfung zu lieben.

Mein Vater war bestürzt vom religiösen Fundamentalismus, dessen Ausweitung er miterlebte, als er vor 29 Jahren den Iran verließ. Für ihn ist das Ego der Menschen die Wurzel allen Übels, wie auch das des religiösen Fundamentalismus. Ich teile diese Ansicht.

Mein Vater, Nur ‘Ali Shah Kermani, hat den Mantel der Meisterschaft an mich weitergereicht. Das ist eine große Ehre und Verantwortung, und ich werde mich bemühen, diesen Mantel mit der gleichen Bescheidenheit und Großzügigkeit im Geiste zu tragen, mit der mein Vater ihn getragen hat. Ich glaube nicht, dass es einen schöneren und tiefgründigeren Weg als diesen gibt, den er sein Leben lang praktiziert hat. Mit Gottes Gnade werde ich die Arbeit meines Vaters mit Liebe und im Dienste der Menschheit fortführen, und ich lade Sie alle ein, nun mit mir sein Leben zu würdigen.

Alireza Nurbakhsh
19. Oktober 2008

Ein Artikel aus dem englischen Sufimagazin Ausgabe 76, Winter 2008/ Frühling 2009

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