Die Bedeutung der Ergebenheit | A. Nurbakhsh
Der erste Schritt auf dem Weg des Sufismus ist es, sich Gott zu ergeben.
Wahre Ergebenheit ist keine bewusste Entscheidung, die als Resultat einer Reihe von Überlegungen ausgeführt wird. Normalerweise ereignet sie sich nach Jahren einer frustrierenden Suche nach dem „richtigen“ Weg, mit unserem Leben umzugehen, dem richtigen Weg, mit anderen umzugehen oder unser selbstzerstörerisches Verhalten unter Kontrolle zu bringen. Manche Suchende geben schließlich auf und ergeben sich. Sie werden dazu gebracht, sich zu ergeben, wenn sie keine andere Wahl mehr haben; sie verstehen mit ganzem Herzen, dass sie das Richtige tun.
Aber was bedeutet es, sich Gott zu ergeben? Obwohl ich der Meinung bin, dass Ergebenheit grundsätzlich nicht auf logischem Denken basiert – dass wir uns also Gott nicht deshalb ergeben, weil es dafür überzeugende Argumente gibt – können wir dennoch über die Bedeutung einer solchen Handlung nachsinnen. Wir können uns immer noch fragen, was es bedeutet, sich Gott zu ergeben und wie solche Ergebenheit erreicht werden könnte.
Von linguistischer Perspektive aus gesehen, ergibt Ergebenheit nur im Kontext von Kämpfen oder Widerstand Sinn. Wenn wir zuvor nicht mit jemandem oder etwas gekämpft haben, dann macht es wenig Sinn, sich zu ergeben. Wenn wir in einem gewöhnlichen Kampf erkennen, dass das Kämpfen sinnlos ist, so ergeben wir uns. Dasselbe trifft auch auf den spirituellen Bereich zu. Aber gegen wen kämpfen wir, bevor wir zu der Einsicht kommen, dass wir uns Gott ergeben müssen? Eine vorläufige Antwort ist: gegen andere Menschen. Oft sind es andere Menschen, die der Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse im Weg stehen. Wir verbringen unzählige Stunden damit, entweder gedanklich, oder manchmal mit Worten, oder sogar physisch mit anderen zu kämpfen. Manche Menschen haben das Glück zu erkennen, dass das nur die Spitze des Eisberges ist – dass die Abneigung anderen gegenüber lediglich symptomatisch ist für unsere eigenen negativen Eigenschaften. Sie kommen zur Erkenntnis, dass der wahre Feind sich im Innern befindet und dass, um mit anderen in Harmonie leben zu können, wir zuerst uns selbst erobern müssen. Dieser Feind ist, anders gesagt, das, was die Sufis Nafs oder das Ego genannt haben. Das Hindernis, welches zwischen uns und dem harmonischen Leben mit dem Rest der Menschheit steht, ist nichts anderes als unser eigenes Selbst.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung dieses Punkts ist die Natur der Gier. Gierige Menschen sind nie mit dem, was sie haben, zufrieden und wollen immer etwas mehr. Diese Eigenschaft wird sie zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit anderen führen. Gierige Menschen, die besonderes Glück haben, werden schließlich erkennen, dass das Problem überhaupt nicht andere Menschen sind, sondern vielmehr sie selbst. Ihnen wird bewusst, dass ihre eigene Gier die Quelle der Konflikte mit anderen ist; und somit werden sie versuchen, ihre Gier zu kontrollieren, anstatt andere zu beschuldigen.
Wenn wir erstmal verstanden haben, dass der wahre Feind unser Ego ist, könnten wir zur Schussfolgerung kommen, dass die Lösung darin liegt, unser Ego zu kontrollieren oder sogar zu versuchen, es zu vernichten. Wir könnten ernsthaft anfangen, gegen die Wünsche und Verlangen unseres Egos anzukämpfen. Wenn wir jedoch ehrlich zu uns selbst sind, werden wir bald einsehen, dass der Kampf gegen unser Ego zum Scheitern verurteilt ist und dass wir die Idee aufgeben müssen, diese Schlacht alleine gewinnen zu können. Lasst uns wieder dem Beispiel gieriger Menschen zuwenden. Wir können uns vorstellen, dass gierige Menschen, die ihre Gier einmal erkannt haben, verschiedene Pläne entwickeln könnten, um sich selbst zu stoppen und nicht entsprechend ihrer Gier zu handeln. Zum Beispiel könnten sie jedes Mal, wenn sie diese Gier verspüren, spazieren gehen oder versuchen zu meditieren oder etwas anderes tun, um ihre Gier vorübergehend zu umgehen. Aber auch auf diesem Weg werden sie immer noch erkennen, dass das Gefühl der Gier sie nicht verlassen wird. Sie können ihre Gier nur überwinden, wenn sie die Gier nicht mehr in sich selbst fühlen.
Dies können wir jedoch nicht durch bloße Willenskraft erzielen. Durch Willenskraft könnten wir zwar aufhören, uns gierig zu verhalten, wir können jedoch nicht aufhören, die Gier zu fühlen. Die Einsicht, dass wir nicht im Stande sind, unsere grundlegende Natur zu ändern, und dass wir uns akzeptieren müssen, so wie wir sind, ist der Anfang auf dem Pfad der Ergebenheit.
Wenn wir erstmal zu der Einsicht kommen, dass das Bekämpfen unseren eigenen Egos uns nicht weit bringt, werden wir erkennen, dass der Weg nach vorne ist, sich unserem Zustand gegenüber zu ergeben. Aber was geben wir hin und wem gegenüber ergeben wir es? Die Ergebenheit passiert in dem Moment, in dem wir aufhören, gegen uns selbst und andere zu kämpfen. Wir akzeptieren die anderen und uns selbst, so wie sie und wir sind. Die negativen Eigenschaften anderer Menschen und unsere eigenen Mängel stören uns nicht. Haben wir einmal die Welt, so wie sie ist, akzeptiert – als eine Manifestation allumfassender Wahrheit – haben wir uns Gott ergeben. Wenn wir uns Gott ergeben, erkennen wir, dass wir unsere Mängel nicht aus eigener Kraft überwinden können, sondern eher Aspiration und Unterstützung von außen suchen müssen – sei es von Gott oder von unserem spirituellen Führer.
Die Essenz der Ergebenheit zu Gott ist unsere Akzeptanz der Welt, so wie sie ist. In der Bhagavad Gita gibt es eine Geschichte, die den Akt der Akzeptanz auf eine tiefsinnige Art und Weise veranschaulicht. Es gab einen Weisen, der immer wieder einen ertrinkenden Skorpion aus dem Ganges herauszog und immer wieder für seine Bemühungen vom Skorpion gestochen wurde. Als er gefragt wurde, wieso er die bösartige Kreatur immer wieder rette, antwortete der Weise, dass es in der Natur (dharma) des Skorpions liege zu stechen, es jedoch in der Natur (dharma) des Menschen liege, zu retten.
In unserer gegenwärtigen Kultur betrachtet man den Akt der Ergebenheit als eine passive und negative Eigenschaft. Wir werden eher dazu ermutigt, uns selbst und unsere Umgebung zu verändern, im Angesicht von Schwierigkeiten nicht aufzugeben und uns niemals unseren Umständen zu ergeben.
Gewissermaßen steht unsere Kultur im Widerspruch mit der Idee der spirituellen Ergebenheit, wie sie oben erklärt ist. Insoweit, wie die beständige Veränderung in uns und in unserer Umgebung, die durch unsere Kultur gefordert wird, in uns und in den Menschen um uns herum einen Konflikt erzeugt, sind solche kulturellen Normen in der Tat unvereinbar damit, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Zum Beispiel ist es eine Sache, unsere Gier zu akzeptieren, jedoch eine andere, darin ermutigt zu werden, auf Kosten der Zerstörung unserer Umwelt gierig zu sein. Es ist eine Sache, sich eine Arbeit mit ausreichendem Gehalt zu suchen, jedoch eine andere, ständig unsere Arbeitsstellen auf der Suche nach mehr Geld und sozialem Status zu wechseln; es ist eine Sache, hervorragend zu sein in dem, was wir tun, jedoch eine andere, das auf Kosten anderer Menschen zu tun.
Im grundlegenden Sinne muss die spirituelle Ergebenheit jedoch nicht im Konflikt mit der Bemühung, uns selbst und unsere Umgebung zu verbessern, sein. Die Welt so anzunehmen, wie sie ist, bedeutet nicht, dass wir nicht zu ihrer Harmonie und Schönheit beitragen sollten oder könnten. Eins der Kennzeichen von denjenigen, die sich Gott ergeben haben, ist, dass diese Menschen nicht mehr durch Eigeninteresse motiviert oder getrieben sind, denn es ist diese Eigenschaft, die sie in Konflikt mit anderen bringt, und somit ihren Pfad der Ergebenheit beendet. Es versteht sich von selbst, dass wir nur, wenn wir uns nicht im Krieg mit uns selbst und anderen befinden, schöpferisch und mitfühlend anderen gegenüber werden. Schließlich ist es unser Wesen, zu retten und zu schützen.
Ein Artikel aus dem englischen Sufimagazin, Ausgabe 78, Winter 2009/ Frühling 2010
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