Sufi-Bibliothek

Die Spirituelle Sehnsucht | A. Nurbakhsh

Im Sufismus ist der Zustand der spirituellen Sehnsucht (talab) die treibende Kraft, die das Individuum auf dem Pfad zur Perfektion antreibt. Ohne die Sehnsucht nach Wahrheit verspürt man einfach keinen Wunsch, die spirituelle Reise zu unternehmen und kann auch nicht nachvollziehen, wieso andere sich gezwungen fühlen, es zu tun.
Sufis glauben, dass der Zustand talab ein Geschenk Gottes ist und als solcher nicht selbst verursacht werden kann. Gott zieht, wen auch immer Er will, an. Man kann den Geliebten nicht selbst aussuchen; es ist der Geliebte, der aussucht. Wie mysteriös das auch erscheinen mag, so spielt das jedoch auf die unfreiwillige Natur dieses Zustands an, denn es trifft einen aus dem Nichts heraus.
Der große persische Sufi Attar (1220 n. Chr.) spricht in seinem Buch „Die Konferenz der Vögel“ über die spirituelle Sehnsucht als die erste Stufe des Pfades in Richtung Wahrheit. Auf dieser Stufe sehnt man sich nach Reinigung der Seele und empfindet sich als absolut arm im Vergleich zu den göttlichen Attributen. Attar beschreibt eine Person, die ohne talab ist, als ein lebloses Wesen:

Derjenige, der sich nicht sehnt ist einer Wand gleich,
Ist tot, ohne lebendige Kraft in ihm.

Der Zustand talab wird manchmal durch die Begegnung mit einem ungewöhnlichen Individuum ausgelöst. Solch einer wird manchmal in der Sufi-Literatur als „Verrückter Gottes“ bezeichnet. Ein passendes literarisches Beispiel dazu ist die Figur Bohlul. Solch eine Person ignoriert die akzeptierten sozialen Konventionen und gleichzeitig spiegelt diese die göttlichen Attribute wider. Er oder sie taucht unerwartet auf und durch sein ausgefallenes Verhalten und seine starke Präsenz bewirkt er in uns die Erkenntnis, dass das äußerliche System der Welt und der materielle Komfort, den wir geschaffen haben uns nur eine oberflächliche Ablenkung bietet. Und weil es auf unserem falschen Wissen über uns selbst basiert, es uns auch keinen Frieden und keine Zufriedenheit bringt.
Attars Eintritt in die Welt des Sufismus ist ein gutes Beispiel einer solchen Begegnung. Dem Beruf nach Pharmazeut, arbeitete Attar einst im Geschäft, als ein Bettler hinein kam und ihn nach Hilfe fragte. Er lehnte ab. Der Bettler bat ihn wieder um eine Spende und Attar lehnte erneut ab. Schließlich fragte der Bettler Attar – „Wie wirst du diese Welt verlassen?“
„Auf die gleiche Weise wie du sie verlassen wirst“, erwiderte Attar.
„Kannst du wirklich wie ich sterben?“ fragte der Bettler.
„Ja, natürlich“, antwortete Attar. Daraufhin legte sich der Bettler auf den Boden, legte seine Holzschale unter seinen Kopf, sprach aus – „Allah“ und starb. Als Attar dies sah, wurde er verwirrt. Er verließ sein Geschäft und begann seine spirituelle Suche.
Wenn man den übernatürlichen Aspekt der Geschichte bei Seite lässt, so ist der Sinn hierbei, dass Attar die totale Loslösung des Bettlers von der geschaffenen Welt erlebte. Er war schockiert, seine eigene Gefangenschaft gegenüber den Umständen seines Lebens zu erkennen. Das wiederum entzündete das Feuer der Sehnsucht in seinem Herzen, die Sehnsucht nach Loslösung von den weltlichen Sorgen. Solche Begegnungen bringen uns dazu unser gewöhnliches Leben aufzugeben, um dem Ungewissen nachzugehen.
Es ist aber nicht notwendig einem „Verrücken Gottes“ in einem „augenöffnenden“ Ereignis zu begegnen, um den Zustand talab zu erleben. Die Sufi-Literatur ist voll von solchen Geschichten, in denen jemand in einer gewöhnlichen Begegnung mit einer gewöhnlichen Person erwacht.
Die folgende Geschichte handelt von dem Sufi Heiligen aus dem neunten Jahrhundert Shaqiq Balkhi (810 n. Chr.). Shaqiq stammte aus Balkhi (die Stadt liegt heute in Afghanistan) und reiste viele Male als Händler nach Turkmenistan. Auf einer seiner Reisen begegnete er einem Götzenverehrer, der vor einem Idol weinte. Shaqiq fühlte, dass der Götzenverehrer fehlgeleitet war und entschied sich, ihn zum richtigen Pfad zu führen.
„Du solltest den lebendigen Gott verehren, der die ganze Welt erschaffen hat – den Allwissenden und Allmächtigen Gott. Sei deiner Götzenverehrung beschämt, zumal nichts daraus kommt“, sagte Shaqiq zum Götzenanbeter.
„Nun, wenn dein Gott so mächtig ist, wieso kann er dann für dich nicht in deiner eigenen Stadt sorgen, damit du für deinen Lebensunterhalt nicht solch große Entfernungen zurücklegen müßtest?“ erwiderte der Götzenanbeter. Diese Antwort brachte Shaqiq zur Einsicht seiner eigenen Ignoranz und führte ihn zur Suche nach dem wahren Gott. Wenn wir jemandem begegnen, der aufrichtige Liebe und Mitgefühl beim Helfen anderen Menschen aufzeigt, so könnte es uns gleichermaßen zum Reflektieren über unsere eigenen Mängel bringen, was uns wiederum zu dem Zustand talab führen könnte.
Erneut bemerkt – die Erfahrung des Zustands talab ist keine freiwillige Wahl, aber auch nicht das, was darauf folgt. Nachdem man von talab getroffen wird, bringt man Opfer und erduldet Mühsal auf dem Pfad der Selbstentdeckung, was nichts mit einer Wahl zu tun hat. Man wird getrieben.
Ob wir den Zustand talab als ein Resultat der Begegnung mit einem „Verrückten Gottes“ durchleben oder als Resultat einer gewöhnlichen Begegnung, – wir müssen für solch eine Erfahrung bereit sein. Allerdings ist die Erfahrung talab nicht selbst-auslösend und somit passiert es nicht den Menschen, die dafür nicht vorbereitet sind.
Wir kommen alle mit gewissen Eigenschaften zur Welt, die zumeist durch unser Erbgut bestimmt werden. Während wir durch das Leben gehen, ändern sich diese Eingenschaften ein wenig und wir eignen uns zusätzliche Charakterzüge an, die zusammen zum größten Teil unser Erleben der Welt und unsere Beziehung zu anderen Menschen bestimmen. Irgendwann einmal könnten wir unserer Eigenschaften zunehmend bewusst werden – es könnten, so zu sagen, positive Eigenschaften, wie Großzügigkeit, Einfühlungsvermögen und Gutherzigkeit sein, oder so zu sagen, negative Eigenschaften so wie Wut, Eifersucht und Hass sein, die solch eine entscheidende Rolle in unseren Gefühlen und in unserem Verhalten anderen gegenüber spielen.
Wenn wir das Glück haben, so erkennen wir, dass wir die meiste Zeit in uns selbst versunken und gleichgültig anderen gegenüber sind. Wenn wir das und unsere anderen Unvollkommenheiten erkennen, so empfinden wir Sehnsucht, uns von diesen negativen Eigenschaften zu befreien. Wir können sogar vorübergehende Erfahrungen von solch göttlichen Attributen wie bedingungslose Liebe und Güte in uns selbst erleben, wobei wir zu der Erkenntnis kommen, dass solche Eigenschaften in unserem Leben gefehlt haben – eine Erfahrung, welche uns dazu führt, es zu versuchen, solche Eigenschaften in uns selbst zu verwirklichen.
Dieses Empfinden eigener Unvollkommenheit, das Schamgefühl unserem eigenen Verhalten gegenüber, zusammen mit dem Wunsch nach Perfektion, ist die Voraussetzung für den erteilten Zustand talab. Wenn wir uns jedoch unserer Mängel nicht bewusst sind und keinen aufrichtigen Wunsch verspüren, uns zu verändern, um Güte, Liebe und Selbstlosigkeit zu erreichen, werden wir nicht nach Hinweisen in der Welt Ausschau halten, was wir damit anfangen sollen. Wir werden einfach glücklich und zufrieden mit unserem Leben sein. Sogar eine Begegnung mit einem „Verrücken Gottes“, mit seinen oder ihren Wunderkräften, könnte uns auch nicht dazu bewegen, uns auf den Pfad von talab zu begeben. Menschen, die sich ihrer eigenen Mängel nicht bewusst sind und die nicht die Gegenwart göttlicher Attribute wahrgenommen haben, werden üblicherweise sogar in außergewöhnlichen Umständen ahnungslos verbleiben.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem es die vorherrschende Sicht über das Lebensziel einer Person ist, deren materielle Nachteile anstatt der spirituellen zu verbessern. Unsere Kultur bombardiert uns mit der Idee, dass wenn wir viele Dinge besitzen und interessante Erfahrungen haben und Abenteuer erleben, wir irgendwie Glückseligkeit und Zufriedenheit erfahren werden. Die Realität ist jedoch absolut anders. Wir wissen aus wiederholter Erfahrungen, dass sogar wenn wir das bekommen, was wir uns wünschen, so werden wir in einem unaufhörlichen Zyklus der Unzufriedenheit schon bald uns etwas anderes wünschen. Sogar wenn wir in Besitz aller Güter kommen, die wir uns wünschen können und alle möglichen Dinge in der Welt tun, die Spaß machen, so werden wir auch dann keinen inneren Frieden und Zufriedenheit erfahren und wir könnten immer noch weit davon entfernt sein, uns um andere zu kümmern und andere zu lieben, was die Eigenschaften sind, die uns für die spirituelle Sehnsucht vorbereiten.
Rumi schreibt in einem seiner Gedichte:

All deine Unruhe kommt durch die Suche des Zustands der Ruhe,
Werde zum rastlosen Suchenden, bis du Ruhe findest.

Wir sind rastlos, weil wir den Zustand der materiellen Ruhe verfolgen – einen Zustand, in dem wir uns versprechen, dass unserer Besitztum der materiellen Güter uns in diesem Leben Erfüllung bringen kann. Das ist eine Illusion. Die meisten von uns wissen das, jedoch verfolgen wir immer noch diesen Traum.
Laut Rumi liegt die wahre Erfüllung im Leben in talab, weil es nur durch den Zustand der Sehnsucht möglich ist, eine fortwährende Ruhe und Frieden zu finden. Dies tritt durch Pein und rastloses Verlangen ein, welches durch den Liebenden im Zustand talab erfahren wird, wenn er oder sie sich aufrichtig nach der Vereinigung mit dem Geliebten sehnt. Das wird gewährt durch die Alchemie der Liebe und die selbstlose Akzeptanz des Liebenden von dem, was der Geliebte wünscht, während der Liebende erkennt, dass alles von Gott ist.

Ein Artikel aus dem englischen Sufimagazin Ausgabe 8., Winter 2014

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